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Wenn Wörter gefährlicher werden als Zucker: Warum Klima-Claims streng reguliert werden – und der Nutri-Score trotzdem freiwillig bleibt
Es gibt Momente, in denen Regeln plötzlich zeigen, wo ihre blinden Flecken liegen. Bei Klima-Claims erleben wir gerade genau das. Während kleine Unternehmen jedes Wort auf die Goldwaage legen müssen, bleibt an anderer Stelle erstaunlich viel Spielraum – genau dort, wo Millionen Menschen täglich Entscheidungen treffen: im Supermarktregal. Wie kann es sein, dass ein einziger Begriff schon abmahnfähig ist, aber eine klare Nährwertkennzeichnung weiterhin freiwillig bleibt? Warum wird Transparenz dort maximal streng reguliert, wo Worte im Spiel sind – und dort maximal locker, wo es um Gesundheit, Zucker und Realität geht?
Wörter verboten, Zucker erlaubt: Die Schieflage der Verbraucherregeln.
oder: Wie Regulierung ausgerechnet dort hart durchgreift, wo es am wenigsten bewirkt.
Seit diesem Jahr ist klar: Unternehmen müssen bei Klima-Claims auf jedes Wort achten. Begriffe wie langlebig, umweltfreundlich oder klimaneutral sind zum Minenfeld geworden. Wer nicht sauber belegen kann, riskiert Abmahnungen. Besonders betroffen: Millionen kleiner und mittelständischer Unternehmen, die oft gar nicht die Ressourcen für detaillierte Prüfungen haben.
Und während hier streng reguliert wird, bleibt ausgerechnet eines der wichtigsten Transparenzinstrumente im Lebensmittelbereich freiwillig: der Nutri-Score.
Ein merkwürdiges Spannungsfeld – und ein Problem für die Glaubwürdigkeit der Regulierung.
Die neue Welt der Klima-Claims:
Streng, strenger, am strengsten
Unternehmen dürfen heute kaum noch etwas versprechen, das nach gut für die Umwelt klingt.
Warum?
Verbraucher sollen nicht in die Irre geführt werden.
Aussagen müssen belegbar, nachprüfbar, eindeutig sein.
Selbst Begriffe wie langlebig gelten bereits als potenziell irreführend, wenn sie nicht durch belastbare Daten gestützt sind.
Das führt zu einer absurden Situation:
Ein kleiner Handwerksbetrieb darf sein Produkt nicht einmal haltbar nennen, ohne Nachweise – während große Marken ihren Zuckergehalt weiter hinter hübschen Verpackungen verstecken können, ganz legal.
Und auf der anderen Seite:
Der Nutri-Score – bekannt, aber nutzlos, weil freiwillig
Die neue Foodwatch-Studie zeigt: 91 Prozent kennen den Nutri-Score.
Aber: Er wirkt kaum auf das Kaufverhalten – weil er zu selten auf Produkten steht.
Große Konzerne lassen die Kennzeichnung weg, wenn die Bewertung schlecht ausfallen würde. Was ist das Ergebnis? Die Verbraucherampel ist stumpf, und zwar durch gesetzliche Zurückhaltung – nicht durch mangelndes Interesse der Bevölkerung. Eine Pflichtkennzeichnung wäre möglich, wird aber politisch seit Jahren vertagt.
Ein wirklich ungleiches Spielfeld
Hier wird die Schieflage mal so richtig deutlich:
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Kleine Unternehmen: harte Regulierung, wenig Spielräume
Sie dürfen heute kaum noch eine positive Eigenschaft erwähnen, ohne einen Stapel Nachweise auf den Tisch zu legen. Selbst harmlose Begriffe können plötzlich als Claim gelten – und damit zum rechtlichen Risiko werden. Jedes Wort steht unter Verdacht, mehr zu versprechen, als es darf.
Mehr zu rechtssicheren Klima-Claims - 2
Große Lebensmittelhersteller: viel Freiheit, weak transparency
Sie können nach wie vor selbst entscheiden, ob der Nutri-Score auf die Verpackung kommt – sogar bei Produkten, die täglich im Einkaufswagen landen und nachweislich Einfluss auf Gesundheit und Ernährung haben. Transparenz wird hier nicht eingefordert, sondern dem guten Willen der Hersteller überlassen.
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Der Effekt: Regulierung trifft die Falschen zuerst
Für kleine und mittlere Unternehmen bedeutet die neue Regelwelt enormen Aufwand – jedes Wort ein Risiko, jede Aussage ein Prüfprozess. Die großen Player dagegen spüren kaum Druck. Und am Ende bekommen Verbraucherinnen und Verbraucher ausgerechnet dort weniger Transparenz, wo sie sie am dringendsten bräuchten.
Warum das problematisch ist
Weil Regulierung eigentlich zwei Dinge tun sollte:
Verbraucher schützen und Wettbewerb fair gestalten. Beides passiert derzeit nur selektiv. Klima-Claims treffen kleine Betriebe wie mit dem Flutlicht. Beim Nutri-Score dagegen bleibt alles im Halbdunkeln.
Es entsteht der Eindruck, dort, wo mächtige Branchen betroffen wären, bleibt der Gesetzgeber vorsichtig. Und dort, wo Millionen Kleinstbetriebe betroffen sind, wird maximal reguliert.
Was jetzt passieren müsste
Transparenz darf nicht dort maximal streng kontrolliert werden, wo Worte im Spiel sind – und gleichzeitig maximal locker bleiben, wo Millionen Menschen täglich Entscheidungen treffen.
Wenn Regulierung glaubwürdig sein soll, braucht es endlich mehr Ausgewogenheit.
Ein paar Punkte, die jetzt auf den Tisch gehören:
➜ Mehr Balance in den Regeln.
Weniger Mikroskop bei den Worten kleiner Betriebe, mehr Verlässlichkeit dort, wo Produkte massenhaft konsumiert werden und echte Wirkung haben.
➜ Transparenz dort verpflichtend, wo sie den größten Unterschied macht.
Bei Marktführern, bei stark beworbenen Marken, bei Lebensmitteln, die täglich gekauft werden. Der Nutri-Score gehört in diese Kategorie – und sollte nicht länger freiwillig sein.
➜ Eine Pflichtkennzeichnung des Nutri-Score.
National oder auf EU-Ebene. Freiwilligkeit schützt vor allem diejenigen, die wenig Interesse haben, eine schlechte Bewertung sichtbar zu machen.
➜ Klima-Claims mit Augenmaß.
Kleine und mittlere Unternehmen brauchen einfache, praxistaugliche Leitplanken – nicht die Angst, dass jedes Adjektiv juristisch verwertbar wird. Der Aufwand muss in einem Verhältnis zur Unternehmensgröße stehen.
➜ Einheitliche Transparenzlogik.
Wenn Verbraucherinnen und Verbraucher geschützt werden sollen, dann bitte durchgängig: bei Klima-Aussagen und bei Nährwertinformationen.

Und ja: Auch Konzerne sind von neuen Klima-Claim-Regeln betroffen.
Aber anders!
Natürlich müssen auch internationale Marken und Konzerne ihre Kommunikation anpassen. Der Unterschied liegt im Aufwand – und in der Schlagkraft ihrer Strukturen:
➜ Sie haben eigene Rechtsabteilungen, die Claims prüfen, dokumentieren und verteidigen können.
➜ Sie haben Budgets, um Studien, Gutachten und Zertifizierungen einzukaufen, wann immer es nötig wird.
➜ Sie haben Marketingteams, die Begriffe austauschen, Claims umformulieren oder Kampagnen komplett neu aufsetzen können, ohne dass der Laden stillsteht.
➜ Und sie haben Produkte, die außerhalb des Klima-Kontexts weiter problemlos beworben werden können.
Für KMU sieht die Realität ganz anders aus:
Oft reicht ein einziges Wort auf der Website, das „falsch verstanden werden könnte“, um Abmahnrisiken und Wochen der Unsicherheit auszulösen. Sie haben weder die Ressourcen noch die Strukturen großer Unternehmen – und treffen Entscheidungen deshalb mit deutlich höherem Risiko.
Die Regeln gelten für alle – aber sie treffen nicht alle gleich hart. Und genau deshalb braucht es eine Regulierung, die wirkt, statt nur bremst.
Zum Schluss ein Gedanke, der uns wichtig ist:
Wir haben lange überlegt, ob man den Nutri-Score und Klima-Claims überhaupt nebeneinanderstellen sollte. Zwei Themen, zwei Regelwerke, zwei politische Arenen. Wenn Regulierung glaubwürdig sein soll, braucht es endlich mehr Ausgewogenheit. Er zeigt, wie unterschiedlich Regulierung greift: hier maximal streng bei Worten, dort maximal vorsichtig bei Kennzeichnungen, die echte Alltagswirkung hätten. Es geht also weniger darum, ob Nutri-Score und Klima-Claims sachlich identisch sind – sondern darum, dass die ungleiche Strenge sichtbar macht, wo das System aus dem Gleichgewicht geraten ist.
Ein Vergleich, der nicht technisch ist, sondern prinzipiell:
Was fordern wir von Unternehmen? Was dürfen Verbraucher erwarten? Und warum werden manche Transparenzpflichten hart durchgesetzt, während andere seit Jahren auf freiwilliger Basis verharren?
Genau an dieser Bruchstelle beginnt die Debatte.
